Halle. Vor zehn Tagen versuchte ein bewaffneter Neonazi an Jom Kippur, in die dortige Synagoge einzudringen, scheiterte aber an der Holztür des Gotteshauses. Daraufhin tötete der 27-Jährige in der Umgebung der Synagoge zwei Menschen und verletzte mehrere weitere schwer. In einem umfassenden Geständnis bestätigte der Mann, dass seine Tat antisemitisch und rechtsextrem motiviert war. Der tödliche rechte Terroranschlag, gerade einmal vier Monate nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, hat die deutsche Öffentlichkeit erschüttert und eine Debatte über Antisemitismus und Rassismus in Deutschland und die Gefahr durch rechte Terrorist*innen ausgelöst.
Besonders getroffen fühlt sich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland. Schon seit Jahren weisen Jüdinnen und Juden darauf hin, dass die Bedrohung durch den Antisemitismus zunimmt, dass die Enthemmung stärker geworden ist, dass sie mit Beleidigungen und Angriffen leben müssen, dass sie sich zunehmend unsicher fühlen. Dass sie in der Öffentlichkeit vermeiden, als Juden erkennbar zu sein. Entsprechend groß ist das Entsetzen über den versuchten und nur durch Glück gescheiterten Massenmord in Halle. Von Lähmung und Sprachlosigkeit unter Jüdinnen und Juden ist zu hören und zu lesen, von der Reaktualisierung alter Ängste, aber auch von Wut und großer Motivation zur Gegenwehr.
Seit dem Anschlag in Halle ist auch eine ganze Reihe lesenswerter Texte, Reden und Interviews erschienen, die das Geschehene aus (auch) jüdischer Perspektive einordnen und analysieren. Auffällig ist dabei, dass fast alle Autor*innen und Redner*innen schildern, dass sie von der Tat ensetzt, aber keinesfalls überrascht sind. Weil diese Texte, gemeinsam gelesen, eine Art Bestandsaufnahme jüdischer Stimmen zur aktuellen Lage in Deutschland darstellen, möchte ich sie hier verlinken und dazu auffordern, sie zu lesen. Denn die Überraschung darüber, dass deutsche Neonazis 2019 versuchen, Jüdinnen und Juden zu ermorden, kann man sich getrost schenken. Umso wichtiger ist es, jetzt die Betroffenen und ihre Perspektive anzuhören, damit sich endlich etwas tut.
Die Jüdische Gemeinde zu Halle hat zu dem Anschlag eine Erklärung abgegeben und betont, der wahre Feind sei der Hass: „Antisemitischer Anschlag am Jom Kippur in Halle“
Veronique Brüggemann, Redakteurin bei Spiegel Online, schildert, warum es so schmerzhaft ist, dass der Täter von Halle an Jom Kippur zugeschlagen hat: „Ausgerechnet Jom Kippur“
Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, kommentiert, dass es schon eine Resignation bedeutet, nach den Sicherheitsmaßnahmen vor Synagogen zu fragen: „Die Politik hat die Alarmzeichen zu lange ignoriert“
Michel Friedman, Publizist, sieht im Interview mit der Frankfurter Rundschau die Demokratie in Deutschland bedroht: „Geistige Brandstiftung wird zum Alltag“
Marc Grünbaum, Rechtsanwalt und Mitglied im Vorstand der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, fordert nach Halle ein Umsteuern in Politik und Gesellschaft: „Halle muss der Beginn eines ernsthaften Umdenkens werden“
Jeremy Borovitz, Überlebender des Terroranschlags, fordert im Interview mit Zeit Online, dass die Bedrohung von Jüdinnen und Juden endlich ernstgenommen wird: „Es war kein Anschlag auf ,uns alle‘“
Max Czollek, Kurator und Autor, fordert einen antfaschistischen Grundkonsens in Deutschland ein: „Der Sturm, vor dem wir euch gewarnt haben“
Richard C. Schneider, Journalist und Filmemacher, erklärt, warum er mittlerweile nicht mehr in Deutschland leben will: „Diese lächerlichen Mahnwachen vor Synagogen“
Juna Grossmann, Bloggerin und Autorin, fragt sich, was noch alles geschehen muss, damit die deutsche Mehrheitsgesellschaft gegen Antisemitismus aktiv wird: „Jom Kippur 2019 in Deutschland“
Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, berichtet im Interview mit dem Deutschlandfunk, wie sich in den jüdischen Gemeinden Angst breitmacht: „Ich hoffe, dass man jetzt auch in Sachsen-Anhalt verstanden hat“
Dmitrij Kapitelmann, Schriftsteller, schreibt, dass es mittlerweile normal geworden ist, dass Nazis in Deutschland Menschen umbringen: „Hässliche Worte, hässliche Taten“
Hannah Peaceman, Wissenschaftlerin und Publizistin, betont im Gespräch mit der Jungle World, dass jüdisches Leben in Deutschland immer fragil gewesen sei: „Eine Überraschung war es nicht“
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