Mein Beruf als Reporter bringt es mit sich, dass ich häufig über Demonstrationen schreibe. Sei es, dass ich eine Demonstration besuche und hinterher darüber berichte, sei es, dass ich meine Leser*innen vorab über eine geplante Demonstration informiere, bei der davon auszugehen ist, dass sie viele Leute interessiert. Durch Leser*innenkommentare und regelmäßige Diskussionen auf Twitter habe ich dabei in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht, dass viele Leute, die nicht regelmäßig mit Demonstrationen zu tun haben, immer wieder ähnlichen Missverständnissen unterliegen. Besonders häufig betrifft das Grundlagen des Versammlungsrechts. In diesem Text möchte ich daher mit dem sehr oft zu hörenden Irrtum aufräumen, dass Versammlungen (so nennen Jurist*innen Demonstrationen und stationäre Kundgebungen unter freiem Himmel) von staatlichen Behörden „erlaubt“ oder „genehmigt“ werden müssten. Wer mir auf Twitter folgt, dürfte wissen, dass ich dieses Thema dort seit Jahren immer wieder beackere. Weil genanntem Irrtum immer wieder auch Journalist*innen und sogar Polizist*innen oder Ministerpräsidenten unterliegen, scheint es zu dem Thema durchaus mehr erklärende Texte zu benötigen. Am Ende des Textes erkläre ich auch, warum mir dieses Thema so wichtig ist. Disclaimer: Ich bin Journalist, kein Jurist. Dieser Text richtet sich an interessierte Laien, Fachleuten dürften ihn ungenau und verkürzt finden. Bei wirklichen Fehlern bin ich froh über einen Hinweis.
Das Wichtigste gleich zu Beginn: Das Recht, Demonstrationen oder Kundgebungen abzuhalten, ist ein Grundrecht. In Artikel 8 des Grundgesetzes heißt es:
(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.
Mit der Kodifizierung des Rechts auf Versammlungen in einem der ersten 20 Artikel des Grundgesetzes, die die Grundrechte beinhalten, stellen die Mütter und Väter der Verfassung die Versammlungsfreiheit der Bürger*innen auf eine Stufe etwa mit der Pressefreiheit (Artikel 5 GG), der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz (Artikel 3 GG) oder der Religionsfreiheit (Artikel 4). Da das Grundgesetz alle staatliche Organe auf den Schutz dieser Grundrechte verpflichtet, ist es eine Pflicht des Staates, die Ausübung dieses Grundrechts zu gewährleisten. Und bereits im Artikel 8, Absatz 1 ist festgehalten, dass man keine Erlaubnis braucht, um sich zu versammeln. Nähere Bestimmungen zu Versammlungen finden sich vor allem im Versammlungsgesetz (VersG). Einige Bundesländer haben eigene Versammlungsgesetze, so dass rechtliche Regelungen durchaus unterschiedlich sein können. Das Versammlungsgesetz des Bundes legt jedenfalls fest, dass alle Menschen (nicht nur Deutsche, wie es im GG heißt) das Recht haben, „öffentliche Versammlungen und Aufzüge zu veranstalten und an solchen Veranstaltungen teilzunehmen“.
Im Versammlungsgesetz sind allerdings auch Verbote festgelegt, die der Versammlungsfreiheit Grenzen setzen. Das betrifft etwa das Verbot, sich bei einer Demonstration zu vermummen, zu bewaffnen oder Uniformen zu tragen. Außerdem werden in dem Gesetz Pflichten für diejenigen festgelegt, die eine Versammlung veranstalten wollen. So muss eine Versammlung 48 Stunden, bevor sie beworben wird, bei der zuständigen Behörde angemeldet werden – in den meisten Städten und Kommunen ist das das Ordnungsamt. In der Anmeldung muss in aller Regel genannt werden, wer die Versammlung anmeldet und somit für ihren Ablauf zuständig ist, wann und wo sie stattfinden soll und mit wie vielen Teilnehmer*innen ungefähr gerechnet wird. Das ist nötig, damit die Polizei beispielsweise für eine Demonstration den Verkehr regeln kann. Oft finden vor Versammlungen noch sogenannte Kooperationsgespräche statt, bei denen das Ordnungsamt oder die Polizei und die Anmelder*innen den geplanten Ablauf detailliert besprechen. Aber: Die Anmeldung einer geplanten Versammlung ist zwar verpflichtend, Versammlungen sind aber nicht genehmigungsbedürftig. Wenn eine Genehmigung für eine Versammlung nötig wäre, also eine explizite behördliche Erlaubnis, wäre das im Grundgesetz verbriefte Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht gewährleistet. Keine Behörde kann daher einfach festlegen, dass eine bestimmte Versammlung nicht stattfinden darf. Die Ordnungsämter können lediglich bestimmte Auflagen für eine Versammlung verhängen, was etwa die zu nehmende Route oder die Zahl der notwendigen Ordner*innen angeht (§ 15 VersG).
In besonderen Fällen können Demonstrationen auch verboten werden, wenn „die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist“ (§ 15 VersG). Gegen solche Entscheidungen kann – wie immer bei Entscheidungen einer Verwaltung – vor den zuständigen Verwaltungsgerichten geklagt werden. Das passiert auch sehr regelmäßig, etwa wenn Städte versuchen, Neonazi-Demonstrationen zu verbieten. Dass angemeldete Demonstrationen tatsächlich rechtskräftig verboten werden, ist aber eher selten. Ein solcher Fall ist mir gut in Erinnerung geblieben, nämlich die geplante Pegida- und Neonazi-Demonstration „Tag der Patrioten“ im Herbst 2015 in Hamburg. Nicht einmal das Bundesverfassungsgericht kippte damals im Eilverfahren das von der Polizei verhängte und von den Verwaltungsgerichten bestätigte Demonstrationsverbot. Der rechte Aufmarsch konnte nicht stattfinden.
Behörden können Versammlungen also einschränken oder mit Auflagen belegen, manchmal auch verbieten, sie müssen sie aber nicht erlauben oder genehmigen. Selbst die Anmeldung kann übrigens entfallen, nämlich bei sogenannten Spontandemonstrationen, die sich aufgrund eines aktuellen politischen Anlasses ohne Aufruf oder vorherige Organisation zusammenfinden. Wenn spontane Versammlungen nicht möglich wären, wäre das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nach herrschender Rechtsauffassung zu stark eingeschränkt. Die oft zu lesende und zu hörende Empörung, dass der Staat etwa Neonazi-Demonstrationen „zulässt“, „erlaubt“ oder „genehmigt“, läuft daher völlig ins Leere. Der Staat hat keine Wahl – eben weil das Recht auf Versammlungsfreiheit ein Grundrecht ist.
Warum ist das nun alles so wichtig? Ist es nicht lediglich eine semantische Spitzfindigkeit, darauf zu bestehen, dass Demonstrationen nicht genehmigt, sondern nur angemeldet werden müssen? Dass sie nicht erlaubt werden müssen, aber unter gewissen Umständen verboten werden können? Ich finde: Nein. Denn ich befürchte, dass hinter der Vorstellung behördlich „genehmigter“ Demonstrationen ein staatszentriertes und verkürztes Demokratieverständnis steckt. Damit meine ich die Vorstellung, dass Demokratie primär etwas ist, was der Staat und seine Organe und die gewählten Abgeordneten in Parlamenten tun – nicht aber etwas, was selbstbewusste und aktive Bürger*innen aus freier Entscheidung selbst tun. Mir scheint sich in dem Gedanken, eine Behörde könne willkürlich festlegen, wo und wann und wofür demonstriert werden darf, ein Rest obrigkeitshöriges Denken zu verstecken, das zu einer Diktatur, aber nicht zu einer lebendigen Demokratie passt, in der die Bürger*innen selbst entscheiden, wie sie ihre Gesellschaft gestalten. Die im Grundgesetz verbrieften Grundrechte sind so wichtig, weil sie staatliche Willkür einschränken. Und das ist gerade bei Versammlungen zentral, da sich diese als unmittelbare öffentliche Willensbekundung der Bürger*innen ja auch gegen staatliche Entscheidungen richten, für eine Regierung also durchaus unbequem sein können.
Weitere Hinweise und Fakten zu Demonstrationen finden sich zum Beispiel in der Wikipedia, beim Bundesinnenministerium und bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Das Komitee für Grundrechte beobachtet die Entwicklungen im Demonstrationsrecht kontinuierlich und kritisch. Praktische Tipps für die Anmeldung und Organisation einer Demonstration haben netzpolitik.org und kreaktivisten.org zusammengefasst.
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